Großstadtfieber - Kurzgeschichte
Von Frederik, veröffentlicht am 27.11.2016Sie war infiziert.
Schon kurz nach Ihrem Umzug war es passiert.
Man hatte sie davor gewarnt, doch jetzt war es zu spät. Es gab kein Gegenmittel, keine Spritze dagegen.
Die meandrierenden Straßenbahnen, mit ihren so unverkennbaren Schienengesängen, die gewaltigen Menschenmassen, die sich in einem schier endlosen Strom weiterschoben, die grellen Nächte, die fast wie ein greifbarer Sternenhimmel auf Erden wirkten.
Dies alles und noch viel mehr hatte sie angesteckt.
Man verschrieb ihr einen Urlaub am Meer um die schlimmsten Symptome zu heilen, doch sie bekam sofort Heimweh, eine üble Nebenwirkung dieser Behandlung.
Aus diesem Grund schlug man ihr eine schonendere Methode vor: sie sollte sich mal für eine Zeit in ihrer Wohnung ausschlafen, ausruhen, wieder zu Kräften kommen und Tagebuch schreiben. Zuerst schien das von mehr Erfolg gekrönt zu sein. So las sich z. B. ein Eintrag wie folgt:
"Eine Nacht im August, sternenklarer Himmel, Vollmond erleuchtet die Szenerie.
Ich sitze auf dem Dach mit Blick über die Stadt.
Geräusche gelangen an meine Ohren. Basslastige Musik wummert aus einer Wohnung, unverständliches Gemurmel von Menschen dringt empor, das Holpern von Autos beim Fahren über Kopfsteinpflaster wiederholt sich im Echo der Häuserwände. Eine Sirene ertönt aus einiger Entfernung, Reifen quietschen, eine Straßenbahn schleift über die Schienen.
In weiter Ferne durchbricht ein Feuerwerk die Dunkelheit. Zeitverzögert erreichen mich das dazu passende Prasseln und Krachen, unterstützt vom unentwegt erklingenden Zirpen der Zikaden.
Ein Fernseher taucht eine nahegelegene Wohnung in flackerndes Licht. Einzelne Hochhäuser stechen durch ihre grellen Reklametafeln hervor, ein paar Scheinwerfer strahlen in den Himmel, an dem man die Sterne sehen kann. Vereinzelt bewegen sich blinkende Flugzeuge am Firmament.
Die Luft ist klar, frisch und windstill. Ein Hauch von Herbst ist bereits spürbar.
Dies alles nehme ich in mich auf, speichere es ab, als einen weiteren Augenblick meines Lebens. Denn kein Tonbandgerät oder Kamera könnten diesen Moment auch nur annähernd so im Ganzen erfassen, wie es ein einziger bewusster Atemzug vom Leben ermöglicht."
Doch schon bald wurde sie wieder rückfällig:
Es drang leise und verschwommen das heulende Gejaule hetzender Rettungswagen durch die Fensterritzen, Neonlichter und tief wabernde Bässe raubten ihr nachts den Schlaf. Sie konnte sich einfach nicht dagegen wehren die Lust auf die damit verbundenen vielversprechenden Erlebnisse und Möglichkeiten zurückzuhalten.
Als also alles nichts half und ihr auch sonst keiner mehr zu helfen wusste fand sie sich damit ab: sie litt am Großstadtfieber.